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Der Einstieg in die Fahrzeug-Systementwicklung

Im vorherigen Artikel wurde der Umsetzungsprozess einer Fahrzeugvision in konkrete Fahrzeugleistungsziele mittels Kund_innenmarktprofil und Benchmarking thematisiert sowie darüber hinaus auch die Formulierung der „100 wichtigsten Fahrzeugleistungsziele. Diese Ziele sind wegweisend für die anschließende Fahrzeugsystementwicklung. Ab Beginn des Systementwicklungsprozesses erhält die technische Dimension des Projektes einen neuen Komplexitätsgrad, der mit jeder Komponente weiter steigt, die das Projekt näher an die Erfüllung der Zielvereinbarung heranführt.

Dieser Artikel behandelt die zweite Hälfte der Konzeptphase, d. h. den weiteren Projektverlauf bis zur Zielvereinbarung. Außerdem geht er auf die Besonderheiten verschiedener Fahrzeugsysteme ein. An dieser Stelle sei hervorgehoben, dass es unterschiedliche Ansätze bei der Fahrzeugsystementwicklung gibt, und dass das hier erläuterte Projektmodell speziell von Magna verwendet wird. Es kann sich demnach von den Ansätzen anderer Fahrzeug-Entwickler oder -Hersteller unterscheiden.

Whitepaper from Magna 7 Considerations for an automotive concept phase

EINE EINFÜHRUNG IN DIE FAHRZEUG-SYSTEMENTWICKLUNG

Bevor der Fokus auf die Entwicklung von Fahrzeugsystemen gerichtet werden kann, muss zunächst geklärt werden, was Fahrzeugsysteme genau sind und warum deren Entwicklung einen so komplexen und wichtigen Teil der Gesamtfahrzeugentwicklung darstellt. Jedem System innerhalb eines Fahrzeuges fällt eine bestimmte Aufgabe zu. Es umfasst also alle Komponenten, die zusammenarbeiten, um diese Aufgabe zu erfüllen. Beispiele für Fahrzeugsysteme sind das Triebwerk, die E/E-Architektur (Elektrik/Elektronik), das ADAS (Advanced Driver-Assistance System) oder das Bremssystem. Der genaue Umfang des jeweiligen Systems hängt in der Regel vom verfügbaren Leistungsumfang des Anbieters ab. Dennoch wird jedes dieser Systeme von einem Modul betreut, dessen Aufgabe es ist, die Systeme zu planen, zu spezifizieren und in das Paket der Gesamtsysteme des Gesamtfahrzeuges zu integrieren sowie diese Systeme zu simulieren, zu testen und später zu validieren.

 

DIE SYSTEMFUNKTIONSMATRIX

Zusätzlich zu den spezifischen Modulen fügt Magna – wie auch viele andere Fahrzeug-Entwickler und -Hersteller – dem Vorgehen eine weitere Ebene hinzu: die Funktionsintegration. Dieser Prozess wird von sogenannten Integrated Functional Teams, oder einfach I-Teams, verwaltet.

I-Teams haben eine Mittlerfunktion zwischen den einzelnen Modulen und betreuen spezifische Gesamtfahrzeugfunktionen wie Gewicht oder Aerodynamik. Auf diese Weise können Updates und Änderungen in einem System unter Berücksichtigung der Gesamtfahrzeugziele implementiert werden. Dieses Netzwerk wird von einem_einer Gesamtfahrzeugkoordinator_in überwacht, der_die für das Erreichen der funktionalen Leistung des Gesamtfahrzeuges verantwortlich ist.

Eine Balance zwischen den einzelnen Modulaufgaben und den übergeordneten Funktionsintegrationsprozessen ist notwendig, um eine sinnvolle Zielvereinbarung zu erstellen. Die Anzahl der Ziele kann in diesem Stadium der Fahrzeugentwicklung um bis zu mehrere Tausend spezifische Messgrößen steigen. Und für dieses komplexe Netz aus Tausenden von Komponenten, die wiederum jeweils Dutzende von Messgrößen im gesamten Fahrzeug beeinflussen, ist ein gutes Koordinationsteam erforderlich, das in der Lage ist, verschiedene Lösungen für solche Wechselwirkungen zu finden.

Whitepaper from Magna 7 Considerations for an automotive concept phase

 

DER WEG ZUR ZIELEVEREINBARUNG

 

Während der Konzeptphase werden die Ziele weiter ausgebaut und konkretisiert, sodass am Ende dieser Phase 100 % der Fahrzeugziele definiert sind. Der Einsatz von Gleichteilen1 hilft Kosten einzudämmen, da durch ihre Verwendung notwendige Neuentwicklungen reduziert werden. Sie können jedoch auch die Flexibilität des Projektes in Hinblick auf die zu erreichenden technischen Ziele einschränken. Daher sollte für jedes Teil individuell entschieden werden, ob es übernommen wird.

Festlegung von Materialien, Zeitplänen und Verantwortlichkeiten

Zunächst wird das Anforderungsprofil für jedes einzelne System, also dessen Aufgaben und Ressourcen, skizziert. Danach können die Stückliste (BOM – Bill of Materials), einschließlich der Bestimmung von beabsichtigten Gleich- und Sonderteilen2, sowie Zeitpläne für das gesamte Projekt erstellt werden. Diese Pläne beinhalten u. a. die Aufteilung der Verantwortlichkeiten sowohl auf die einzelnen internen Teams als auch auf die am Projekt beteiligten externen Partner.

Die Bewertung und das Onboarding von Lieferanten

Sobald die Ziele auf Systemebene definiert sind, kann der Hersteller mit der Festlegung einer Lieferkettenstrategie fortfahren. Schlüssellieferanten bzw. Lieferanten, die Teile mit langer Vorlaufzeit3 liefern, können jetzt beauftragt und eingebunden werden, um die rechtzeitige Lieferung wichtiger Teile je nach Bedarf sicherzustellen.

Das zuvor erstellte Anforderungsprofil wird dann in Lastenhefte für einzelne Lieferanten übertragen. Während des gesamten Zielsetzungsprozesses überprüfen die Entwicklungsteams gemeinsam mit potenziellen Lieferanten die Lastenhefte, um eine gute Balance zwischen technischen und kaufmännischen Aspekten sowie dem Timing zu finden. Beispielsweise könnten Lieferanten Lösungen anbieten, die zwar nicht exakt den technischen Anforderungen entsprechen, aber preislich attraktiver sind.

Planung und Vorbereitung für die Serienfertigung

Schließlich muss die Serienproduktion des Fahrzeuges geplant werden. Dieser Prozess umfasst die Evaluierung verschiedener Vorgehensweisen und Risiken sowie die Festlegung der Kostenziele und die Finanzplanung. Sind diese Schritte gesetzt, kann der formelle Vertrag für die Serienproduktion abgeschlossen werden. Wenn bereits eine Partnerschaft zwischen dem Startup und den Entwicklungs- bzw. Fertigungspartnern besteht, kann es vorteilhaft sein, diese auf die Serienproduktion auszudehnen

 

 

ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK

Sobald innerhalb eines Automobil Projekts damit begonnen wird, Spezifikationen auf Systemebene zu erstellen, und man damit in die Fahrzeugsystementwicklung übergeht, wächst die Anzahl der Ziele exponentiell. Die Anforderungen an das Fahrzeug werden immer weiter konkretisiert und das Projekt somit vorangetrieben. Der Fortschritt erfolgt dabei an gleich mehreren Fronten: in Hinblick auf das Timing, das Lieferkettenmanagement und die Vorbereitung der Serienproduktion.

Sind all diese Voraussetzungen erfüllt, können das Startup und sein Fertigungspartner schließlich die Zielvereinbarung erarbeiten. An dieser Stelle beginnt die Fahrzeugvision endgültig, konkrete Formen anzunehmen, d. h. die Grenze zwischen einer eher abstrakten Produktvision und einem klar definierten Fahrzeug zu überschreiten.

Dennoch gibt es weiterhin einige zu klärende Faktoren wie die zahlreichen Herausforderungen bei der Inbetriebnahme der Produktionsstätte  oder der IT-Infrastruktur. Die folgenden Artikel behandeln diese Themen zusammen mit einigen anderen Entwicklungen, die für den Start eines erfolgreichen Automobilprojektes unerlässlich sind.

 

 

 

1 Gleichteile sind Teile einer früheren Fahrzeuggeneration, die in die neueste Fahrzeugentwicklung übernommen werden.

2 Im Gegensatz zu Gleichteilen müssen Sonderteile von Grund auf neu entwickelt werden. Sie sind daher (zumindest zum Zeitpunkt ihrer Entstehung) einzigartig für das Fahrzeug.

3 Teile mit langer Vorlaufzeit (Long-Lead Time Parts) beschreiben die Teile eines Fahrzeuges, deren Konstruktion, Entwicklung und Produktion am längsten dauert. Somit gehören sie zu den ersten Komponenten, die ein Marktneueinsteiger organisieren muss.

 

 

 

 

 

 

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Manfred Pircher

Manfred Pircher ist Projektleiter im Bereich Engineering bei Magna in Graz.

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